UNSERE REZENSION

 

Abenteuer in Südostasien

 

Lost Temple

 

Charakterwahl im Urwald

 

Es gibt Mechanismen, die schnell in das Oeuvre der Spieleautoren aufgenommen wurden. Arbeitereinsetzen etwa, also das Aktivieren der unterschiedlichsten Aktionen durch das Platzieren einer Spielfigur. Caylus von William Attia war zwar nicht das erste Spiel seiner Art, aber es machte den eigentlich simplen Mechanismus 2005 massen- und nachahmertauglich. Oder ein jüngeres Beispiel: Deckbuilding 2008. Untrennbar mit Donald X. Vaccarino und Dominion verbunden, dauerte es nicht lange, bis andere Autoren und Verlage die Idee aufgriffen. Vielleicht liegt es daran, dass diese beiden Beispiele viel Freiraum in der eigentlichen Umsetzung lassen – weder das Mischen von Karten noch das Einsetzen eines Spielsteines ist eigentlich ein Mechanismus, sondern eher notwendiges Übel beim Spielen. Aber beide wurden durch einen Kunstgriff zu einem spieldefinierenden Element aufgewertet. Was diese Überlegungen mit Lost Temple zu tun haben? In Bruno Faiduttis Spiel findet sich ein Mechanismus, der eigentlich viel öfter Einsatz finden sollte – er ist überaus flexibel, hochgradig interaktiv und auch thematisch stimmig. Und er wurde nicht von Bruno Faidutti erdacht. Aber immer schön der Reihe nach.

 

Die Spieler verkörpern bei Lost Temple Abenteurer, die 1927 im Urwald Südostasiens zu einem sagenumwobenen Tempel unterwegs sind. Das Cover schreit förmlich Indiana Jones und auch der Schachtelinhalt – ein Spielplan, einige Karten (pro Sprache ein eigener Kartensatz!), Kartonchips, Kunststoffdiamanten und Spielfiguren – ist stimmig. Die Illustrationen von Pierô sind wie gewohnt äußert gelungen und schaffen eine abenteuerlich-exotische Atmosphäre mit der nötigen Portion Augenzwinkern. Im Grunde ist Lost Temple ein überaus einfaches Laufspiel. Wir ziehen unsere Figuren Stück für Stück in Richtung des titelgebenden Haupt-Tempels. Gelegentlich landen wir dabei auf Ereignisfeldern mit verdeckten Plättchen, die wir umdrehen dürfen. Die Auswirkungen der Plättchen sind primär positiv, aber um die Sache etwas würziger zu gestalten, finden sich auch negative Ereignisse. Plättchen liefern entweder Smaragde, Bewegungspunkte, den Startspielermarker oder Macheten, die wir wiederum benötigen, um Urwald-Felder zu passieren. Negativ ist der Verlust von gerade hart erarbeiteten Smaragden oder Macheten. Gelegentlich finden sich dann am Plan noch Tempel- und Dorf-Felder, deren Funktion nicht sofort bzw. immer zu tragen kommt. So weit so unspektakulär. Seinen eigentlichen Reiz bezieht Lost Temple nämlich aus dem Charakterwahl-Mechanismus. Bekannt sein dürfte dieser vor allem aus Ohne Furcht und Adel; ebenfalls von Faidutti. Wie die Spielregel des 2000 bei Hans im Glück erschienen Kartenspiels aber verrät, wurde der Mechanismus von Marcel-André Casasola Merkle erdacht. Zwei Jahre zuvor fand die pfiffige Charakterwahl in Verräter von Adlung Spiele erstmals Verwendung. Faidutti hat aber Casasola Merkles Grundidee vor allem in der Interaktion der Charaktere untereinander für Ohne Furcht und Adel noch verfeinert und nun auch für Lost Temple nahezu unverändert übernommen.

 

Zu Beginn jeder Runde werden die neun Charakterkarten gemischt. Abhängig von der Spielerzahl wird eine gewisse Anzahl an Karten offen und verdeckt zur Seite gelegt. Bei fünf Spielern werden beispielsweise zwei Karten offen und eine Karte verdeckt abgelegt. Danach bekommt der Startspieler die restlichen Karten und wählt eine davon geheim aus, die er auch behält und verdeckt vor sich ablegt. Die übrigen Karten werden im Uhrzeigersinn weitergegeben, damit der nächste Spieler aus den verbliebenen Karten wiederum eine auswählen und vor sich ablegen kann. Dies geht so lange, bis der letzte Spieler nur mehr zwei Karten zur Auswahl erhält. Die letzte Karte wird ebenfalls verdeckt abgelegt. Und bereits hier ergibt sich eine interessante Situation: Der Startspieler weiß, welche Karten im Spiel sind, aber nicht, welche Karte am Schluss der Runde übrig bleibt. Der zugegebener Maßen recht hohe Startspielervorteil durch die Vielfalt an wählbaren Charakteren wird dadurch etwas abgeschwächt. Zumal jeder nachfolgende Spieler zumindest im Ansatz eine Ahnung hat, was sein Vorgänger gewählt haben könnte und was seinem Nachfolger zur Verfügung steht.

 

Warum es wichtig ist, zu erahnen, wer welchen Charakter gewählt hat, liegt an deren verwobener Funktionsweise. Nachdem alle Spieler eine Karte gewählt haben, werden die Charaktere – nicht die Spieler! – in einer vordefinierten Reihenfolge aufgerufen. Als erstes etwa der Schamane, der einen anderen Charakter – nicht Spieler! – benennen muss, mit dem er zu gegebenem Zeitpunkt (wenn der entsprechende Charakter aufgerufen wird) Platz tauschen möchte. Und hier wird das Dilemma klar: Der Schamane ist ausgesprochen mächtig, kann er die aktuelle Platzierung am Spielplan doch auf den Kopf stellen. Aber eben nur, wenn er auch einen Charakter wählt, der erstens im Spiel ist und zweitens einem Spieler gehört, der weiter vorne ist. Im Schlimmsten Fall katapultiert eine schlechte Wahl den Spieler an die letzte Stelle – schadenfrohes Gelächter inklusive. Ähnlich gelagert ist der Dieb, der einem Charakter – genau: nicht Spieler! – alle seine Smaragde stehlen kann. Aber eben wieder nur, wenn er einen im Spiel befindlichen Charakter wählt, dessen „Besitzer“ auch Smaragde hat. Diese Plastik-Edelsteine sind quasi die Währung im Spiel, auf die bestimmte Charaktere zurückgreifen müssen, um sich bewegen zu können. Der Priester beispielsweise kann zwei Smaragde abgeben, um bis zum nächsten Tempel-Spielfeld zu ziehen. Der Älteste funktioniert im Grunde identisch, nur zieht er bis zum nächsten Dorf. Der Forscher hingegen darf seine Smaragde Eins zu Eins gegen Bewegungsschritte tauschen. Das Kanu (eigentlich sollte die Karte Kanufahrer heißen) wandelt die Smaragde in doppelt so viele Bewegungsschritte um; maximal jedoch 20 Schritte. Wer also  Smaragde hortet, um demnächst den Kundschafter oder das Kanu zu nutzen ist ein beliebtes Ziel für den Dieb. Die Seherin ermöglicht es dem Spieler die Ereignisplättchen am Plan anzusehen und zu vertauschen. Da es pro Zug nur einen Smaragd Nachschub gibt, kann es mitunter nötig sein, ein Plättchen mit mehreren Smaragden sich selbst vor die Nase zu setzen, da die Seherin danach noch ein oder zwei Schritte machen kann. Der Forscher erhält eine Machete und darf bis zu zwei Schritte machen. Und schlussendlich das Kind, dass zur nächsten Figur vor sich aufschließt.

 

Faidutti hat hier ganz bewusst nicht nur auf einen bewährten Mechanismus, sondern auch auf eine bewährte Dynamik zurückgegriffen. Frei nach dem Motto „Ich denke, dass du denkst, weil du dieses und jenes vor hast ... hoffe ich halt“ entsteht ein heiteres Raten und Spekulieren, wer denn in seiner gegenwärtigen Situation welchen Charakter gewählt hat. Dabei sorgt ein Rest an Unsicherheit für die nötige Leichtigkeit. So entsteht kein stilles Grübeln am Tisch, sondern vielmehr ein lebendiges Mit- und auch Gegeneinander. Es macht einfach Spaß, mit dem gewählten Charakter heil davon zu kommen, oder auch den gesuchten Charakter zu „erwischen“. In dieser Hinsicht wirkt Lost Temple trotzdem etwas zahnloser als Ohne Furcht und Adel. Es ist nicht ganz so gemein und destruktiv und damit auch deutlich familientauglicher. Denn wo sich die Spieler bei Faiduttis Klassiker in einem Hick-Hack verfransen konnten und auch mussten, ist es bei Lost Temple nötig, die Geschwindigkeit im Auge zu behalten. Es gibt wenig Einnahmequellen, aber viele Möglichkeiten, Smaragde in Bewegung umzuwandeln. Der dadurch entstehende Fokus auf die Plastik-Edelsteine konzentriert die Aufmerksamkeit der Spieler auf ein Element und sorgt somit für Konfliktpotential. Aber auch durch den Wegfall der Gebäude von Ohne Furcht und Adel, die zusätzliche Funktionen für sich und in Kombination mit den Charakteren hatten, ist Lost Temple das zugänglichere Spiel. Der Weg zum Ziel ist klar vorgegeben, bleibt aber bis zum Schluss spannend. Zwar gibt es Partien, in denen einfach nichts klappen will, aber dank relativ geringer Spieldauer ist so etwas leicht zu verschmerzen. Wirklich abgehängt wird sowieso niemand – ein geschickt eingesetzter Schamane kann das Blatt noch wenden – aber so ein meisterlicher Spielzug muss erst einmal gelingen. Von eben diesen Situationen und Überlegungen lebt Lost Temple. Ist der Mechanismus einmal verinnerlicht, dürfen zwei bis acht Spieler in ein herrliches Familienspiel eintauchen. Wobei bei zwei und drei Spielern immer zwei Charaktere gewählt werden. Was auch funktioniert und die Sache vielleicht sogar eine Spur taktischer macht, aber die bessere Stimmung kommt ab vier Spielern auf. Generell gilt, wie bei so vielen Spielen: je mehr, desto chaotischer, desto lustiger.

 

Was die anfängliche Frage betrifft, warum Casasola Merkles Idee nicht öfter Einsatz findet … auf den erste Blick wirkt der Mechanismus wesentlich konkreter in seiner Struktur, schließlich ist der Ablauf, wie Charaktere gewählt werden, klar vorgegeben. Eine so eindeutig umrissene Struktur zu übernehmen, stellt für viele Autoren sicher eine nicht unbegründete Hürde dar. Auch wenn das, was mit den gewählten Charakteren schlussendlich gemacht wird, genauso offen ist, wie etwa das Arbeitereinsetzen. Und darum wäre es schön, wenn das gelungene Lost Temple nicht das letzte Spiel seiner Art wäre.

 

Klemens Franz

 

Spieler: 2-8

Alter: 10+

Dauer: 40+

Autor: Bruno Faidutti

Grafik: Pierô

Preis: ca. 30 Euro

Verlag: White Goblin Games 2011

Web: www.whitegoblingames.nl

Genre: Laufspiel mit Charakterwahl

Zielgruppe: Für Familien

Spezial: Viele Spieler

Version: multi

Regeln: en, fr, nl, de

Text im Spiel:

 

Kommentar:

An sich einfaches Laufspiel

Bekannter Mechanismus der Charakterwahl

 

Vergleichbar:

Ohne Furcht und Adel, Verräter, Tal der Abenteuer

 

Andere Ausgaben:

Arclight, Japan; Stronghold, USA; Lifestyle Ltd., Rußland

 

Meine Einschätzung: 6

 

Kommentar des Rezensenten:

Lost Temple ist der Beweis, dass der bewährte Charakterwahl-Mechanismus auch in einem Laufspiel funktioniert. Nicht so „böse“ wie seine Vorgänger.

 

Zufall (rosa): 1

Taktik (türkis): 2

Strategie (blau): 0

Kreativität (dunkelblau): 0

Wissen (gelb): 0

Gedächtnis (orange): 1

Kommunikation (rot): 0

Interaktion (braun): 3

Geschicklichkeit (grün): 0

Action (dunkelgrün): 0