Um Reifenbreite

 

Sportspiele gehören neben Wirtschaftsspielen zu meinem bevorzugten spielerischen Interessensgebiet und so habe ich im Laufe der Zeit einige sehr interessante Sportspiele kennen gelernt. Darunter befanden sich auch hervorragende Radrennspiele wie das '6-Tagerennen', 'The Devil hids the Hindemost', 'Die Tour' und 'Tourspel'.


Die Perle unter den Radrennspielen kenne ich allerdings nur von Erzählungen und Bildern, was aber bei weitem genügte, um es zum Objekt meiner sammlerischen Begierde werden zu lassen - die Kenner wissen natürlich schon längst, wovon die Rede ist! 'Homas Tour' heißt das Juwel, das leider viel zu kurz am Markt war und wohl der Grund für so manchen Abstecher nach Holland gewesen ist. Als ich dann Anfang 1991 in Strategy Plus, der Nachfolgezeitschrift von Games International, einen Artikel von George Crawshay über 'Homas Tour' las, in dem er so ganz nebenbei - 'Beati Possidentes' - auch schrieb, dass das Spiel eine Wiedergeburt erleben würde, wartete ich voller Ungeduld auf die Bericht aus Nürnberg - und wurde leider bitter enttäuscht, denn von 'Homas Tour' war weit und breit nichts zu sehen.
Nachdem ich nach einiger Zeit meine Enttäuschung endlich hinuntergespielt hatte, begann ich wieder zu hoffen - denn ein neues Jahr, ein neues Nürnberg. Als mir dann zum Jahreswechsel ein Freund auch noch definitiv das Erscheinen von 'Homas Tour' bei Jumbo bestätigte, begann das endlose Warten - Geduld zählt nicht gerade zu meinen Stärken.

 

Einmal pro Woche nervte ich alle Spieleläden in meiner Umgebung und hätte sicherlich bald Lokalverbot bekommen, wenn es das Schicksal nicht gut mit mir gemeint hätte, denn Mitte März hielt ich das heißersehnte Spiel endlich in Händen.
Klar, dass noch am selben Abend drei Leute zusammengetrommelt wurden. Ihre Freude war ähnlich groß wie die meine, aber wohl mehr darüber, dass mein Gejammere nun endlich aufhören würde.
Um ja keine Zeit mit lästigen Regeldiskussionen zu verlieren, hatte ich sie mir vorher natürlich schon eingesogen - vierzehn A4 Seiten, ein kleiner Schock gleich zum Einstieg. Doch war alles halb so schlimm, denn etwa die Hälfte der Regeln besteht aus Beispielen, die durch zahlreiche Illustrationen alles klarstellen, was unklar sein könnte. Besonders die Abbildung 7 sollte man sich unbedingt genauer ansehen, da hier einige interessante Situationen behandelt werden.

 

So war das Spiel dann auch sehr schnell erklärt und im Grunde ist es völlig simpel. Jeder Spieler ist Capo eines Radrennteams, das aus vier Fahrern besteht. Nachdem diese sich an den Start begeben haben - abwechselnd setzen die Spieler je einen Fahrer auf den Spielplan, wobei nur beachtet werden muss, dass zwei Fahrer eines Teams nicht in derselben Spur stehen dürfen - fällt der Startschuss.
Runde für Runde werden nun alle Fahrer einmal bewegt und es beginnt, wie könnte es wohl anders sein, der Führende. Gibt es aber keinen solchen, da mehrere Fahrer auf gleicher Höhe liegen, liegt jener Fahrer, der in Fahrtrichtung am weitesten rechts außen steht, um die berühmte Reifenbreite, daher auch der neue Titel des Spiels, vorne und zieht daher als erster.
Um weiterzuradeln wirft er 2 Würfel und darf nun die Augensumme ziehen. Gezogen wird gerade oder schräg nach vorne, dabei dürfen besetzte Felder aber nicht betreten und in den Kurven dürfen die dicken Linien nicht überfahren werden - das war's dann auch schon. Ach ja, eines sollte man vielleicht gleich erwähnen: Man kann und das ist mitunter durchaus sinnvoll, auch Augen verfallen lassen und entsprechend weniger weit radeln.

 

Aber jetzt kommt's. Stehen nämlich direkt hinter diesem Fahrer weitere Fahrer in einer geschlossenen Kette, so können sich diese nun im Windschatten anhängen, was man bei einem guten Würfelresultat des Ziehenden natürlich gerne machen wird, da man so das eigene Würfelrisiko ausschaltet.
Doch gilt es dabei drei Dinge zu beachten: Der Fahrer muss seinen Zug auf dem Feld direkt hinter seinem Vordermann beenden, kein Fahrer darf mehr Felder radeln als der Ziehende und man muss natürlich gemäß den allgemeinen Regeln ziehen.
Außerdem darf ein Fahrer einer solchen Gruppe nur dann den Windschatten ausnützen, wenn dies alle vor ihm liegenden Fahrer getan haben. Verzichtet also einer darauf, so verlieren alle in dieser Reihe dahinterliegenden Fahrer diese Möglichkeit. Sie ahnen vielleicht schon die zahllosen taktischen Möglichkeiten, die sich daraus ergeben. An dieser Stelle möchte ich auch nochmals auf Abbildung 7 verweisen. Auf diese Weise arbeitet man sich durch das ganze Feld - würfeln, ziehen, Windschatten -, bis jeder Fahrer einmal gezogen wurde.

 

Um nun das Glück beim Würfeln etwas zu mindern, hat jeder Teamchef Karten, die er statt der Würfel verwenden kann. Der Vorteil ist enorm, denn jede Karte zählt 5 oder 6 Augen. Manche der Karten gelten aber nur für einen bestimmten Fahrer und einige dürfen in den Bergen (davon noch später) nicht verwendet werden. Diese Karten ermöglichen aber noch etwas anderes. Vor allem wenn man gleich 2 Karten für einen Fahrer einsetzt, wird man nicht unbedingt wollen, dass auch die Hintermänner davon profitieren. Daher besteht die Möglichkeit, beim Einsatz einer Karte diesen Zug als Ausreißversuch zu deklarieren. Die dahinterliegenden Fahrer werden davon nämlich so überrascht, dass sie nicht in der Lage sind, den Windschatten auszunützen.

 

Damit kennen sie nun die Grundregeln. Ach ja eines habe ich noch vergessen. Wer eine 7 würfelt (egal ob mit den Würfeln oder in Kombination mit einer Karte), muß vor dem Zug eine Ereigniskarte ziehen und deren Ergebnis befolgen. Das schlimmste, was dabei wohl passieren kann, ist ein Massensturz, da dadurch auch andere Fahrer betroffen sind.

Wir verwenden statt dieser Karten allerdings eine Regel, die mir Eamon Bloomfield zukommen ließ und die von Derek Carver stammen dürfte.

 

Nun findet ein Radrennen aber meist nicht auf einer ebenen Straße statt, sondern man muss sich gemeiner Weise über Berge schleppen, oder wird durch Kopfsteinpflaster ordentlich durchgeschüttelt und auch dies kann bei diesem Spiel simuliert werden.
Neben ganz gewöhnlichen Streckenteilen (beige) gibt es nämlich auch Berge , die Anstiege sind rot, die Abfahrten ocker und Kopfsteinpflaster (blaugrün), denen eines gemeinsam ist: alle Felder tragen eine Zahl, die, Sie ahnen es vielleicht schon, bei Anstiegen und dem Kopfsteinpflaster vom Würfelergebnis subtrahiert, bei Abfahrten hingegen zum Ergebnis addiert werden. Da kann es nun durchaus passieren, daß man bei einem zu geringen Würfelergebnis aus dem Sattel muss und diese Runde nicht weiterkommt. Wer sein Fahrrad liebt, der schiebt!!!
Wohl dem, der noch eine Karte zur Verfügung hat, mit der sich das Würfelglück etwas steuern lässt. Wie schon erwähnt, können einige davon aber nicht in den Bergen eingesetzt werden und auf Kopfsteinpflaster darf man nie mehr als eine Karte gleichzeitig verwenden.

 

Bereits in dieser Fassung ist 'Um Reifenbreite' ein absolutes Spitzenspiel. Durch die freie Streckenwahl kann man den Kurs seinen persönlichen Neigungen anpassen und so auch ganze Rundfahrten veranstalten, wobei je nach Etappe durch die unterschiedlichen Streckenführungen auch verschiedenen Taktiken notwendig sind. Und dass es keine Einzel-, sondern eine Teamwertung gibt, macht das Spiel bis zuletzt spannend.

 

Aber damit ist es noch immer nicht genug, denn es wurden noch weitere Ereignisse, die bei einem Radrennen passieren können, berücksichtigt. All diese Dinge kann man aber je nach Lust und Laune der Spieler dazunehmen oder weglassen.
Hier nur mehr in kurzen Stichworten, was es noch alles gibt: Bei längeren Etappen und Rundfahrten können Zwischensprints und Bergwertungen erfolgen. Es gibt das gelbe Trikot, das für jede Runde, in der es ein Fahrer anhat, Punkte bringt. Um das Zusammenspiel in einer Gruppe zu verbessern, kann man sich in der Führungsarbeit abwechseln, was aber auch in die Hose gehen kann, da der neue Führende dies mitunter zu einem Ausreißversuch nutzt. Und wer besonders faul ist und sich unbeobachtet glaubt, kann sich von einem Begleitfahrzeug mitziehen lassen. Doch zeigt sich dann am Schluss einer Etappe, ob man nicht doch dabei ertappt wurde, was zu einer sofortigen Disqualifikation des Missetäters führt.
Den Abschluss der Spielregeln bildet eine Aufstellung möglicher Streckenführungen (angelehnt an Klassiker, z.B: Paris - Roubaix, der Hölle des Nordens) mit dazugehörigen Sprints und ein Beispiel für die Abrechnung einer Etappe.

 

Wie immer bei der Neuauflage eines Spiels stellt sich nun die Frage, was gegenüber der alten Auflage verändert wurde. Da ich diese aber nicht besitze, kann ich hier nur weitergeben, was mir erzählt wurde, oder ich anderswo bereits gelesen habe.
Eine Änderung betrifft die Ereigniskarten, die in einigen Punkten entschärft wurden, an der Strecke wurden kleinere Korrekturen vorgenommen und die Rolle des Fahrers im gelben Trikot wurde (nicht zum Vorteil, wie man mir versicherte) aufgewertet.
Alle diese Korrekturen haben aber dem Spiel (zum Glück) in keinster Weise geschadet. Und auch am Spielmaterial gibt es eigentlich nichts auszusetzen. Allein das comicartigen Layout des Spielplans ist sicherlich nicht jedermanns Sache.

 

Anstatt nun ein abschließendes Resumé zu ziehen, möchte ich nur folgendes sagen. Für mich steht das Spiel des Jahres 1992 eigentlich schon fest, doch gibt es da zwei kleine Haken. Erstens ist 'Um Reifenbreite' nur eine Neuauflage und - jetzt kommts: Wie soll man die Entscheidung der Jury deuten, ein Spiel in die Empfehlungsliste aufzunehmen, aus der ja schließlich dann das Spiel des Jahres gewählt wird, das im Handel noch gar nicht erhältlich und dessen Erscheinen erst für den Herbst geplant ist. Ob das nicht ein abgekartetes Spiel ist? Lassen wir uns überraschen!

 

P.S: Einen kleinen Kritikpunkt hätte ich jetzt fast vergessen. Für Achtjährige, wie das auf der Spieleschachtel so schön zu lesen ist, eignet sich das Spiel aber nun gar nicht. Zehn oder besser noch zwölf Jahre sollte man schon sein, um die taktischen Möglichkeiten von 'Um Reifenbreite' so richtig ausloten zu können.

 

WIN-Wertung:

** Um Reifenbreite W SS II K UU AA