UNSERE REZENSION

 

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Die Akte Whitechapel

Morde inmitten der Metropole

 

Der Stadtteil Whitechapel, außerhalb der mittelalterlichen Stadtumfassung und nördlich der Themse gelegen, gehört zum Londoner East End. Spätestens seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts siedelten sich hier vermehrt Zuwanderer an, die sich in der Hauptstadt der Weltmacht Großbritannien ein besseres Leben erhofften. Vor allem Iren, aber vermehrt auch Immigranten vom Kontinent, besonders aus Osteuropa und unter diesen besonders viele Juden aus den damals zum russischen Zarenreich gehörenden polnischen Gebieten, sowie Engländer auf dem sozialen Abstieg landeten in dieser von Elend, Armut, Alkoholsucht und der damit oft einhergehenden Kriminalität geprägten Gegend. Wer hier leben musste, hatte wenig Aussicht, je wieder zu entkommen. Wer überhaupt Arbeit fand, wenn auch nur vorübergehend, konnte sich schon zu den Glücklicheren zählen. Viele Menschen verdingten sich hier um 1880 als Taglöhner. Selbst verglichen mit Wien zur selben Zeit, wo das Elend der Zugezogenen aus Galizien und vor allem aus Böhmen auch nicht zu übersehen war und einen gewichtigen Beitrag zum Erstarken der Sozialdemokratie unter dem Armenarzt Viktor Adler brachte, muss es im East End trostlos gewesen sein. So trostlos, dass der irische Schriftsteller George Bernard Shaw, damals knapp über dreißig Jahre alt und als Journalist und Literaturkritiker tätig, in einem Leserbrief an die Zeitung „The Star“ vom 24. September 1888 sarkastisch meinte, dem Whitechapel Mörder den Erfolg zuschreiben zu dürfen, wenigstens für einen Augenblick die Aufmerksamkeit der bürgerlichen Gesellschaft auf die „soziale Frage“ gelenkt zu haben.

Shaw bezog sich damit auf eine Reihe von äußerst brutalen Morden an verarmten Frauen, die meist der Gelegenheitsprostitution nachgingen, um wenigstens einen Schlafplatz für die Nacht – und Alkohol – bezahlen zu können. Bis Februar 1891 zählte man elf Opfer. Alle diese Taten blieben ungeklärt, ja, in verschiedenen Abteilungen der Polizei (Metropolitan Police, City Police, Scotland Yard) war man gar unterschiedlicher Ansicht, ob diese Verbrechen von einem Einzelnen oder von mehreren Tätern begangen worden waren. Der Akt wurde 1896 geschlossen, aber die Meinung, dass zumindest fünf der elf Opfer auf die Rechnung eines einzelnen Serienmörders gingen, sollte sich durchsetzen. Der Spitzname „Jack the Ripper“ stammt aus einem Bekennerschreiben, dessen Authentizität freilich schon 1888 umstritten war (der so genannte „Dear Boss“-Brief vom 27. September jenes Jahres).

Dieser Unhold hat nicht nur in Sachbuch, Literatur (zahlreiche Kriminalromane, aber auch in Frank Wedekinds Drama „Die Büchse der Pandora“), Oper („Lulu“ von Alban Berg, nach Wedekind), Funk, Film und Fernsehen Einzug gehalten, sondern auch, vermehrt seit 1988, einhundert Jahre nach den schrecklichen Begebenheiten, Spieleautoren inspiriert. Man denke nur an „Jack the Ripper“ (Tom Loback et al., 1983), „Mystery Rummy: Jack the Ripper“ (Mike Fitzgerald, 1998 / auf Deutsch 2009 bei Pegasus) oder „Mr. Jack“ (Bruno Cathala & Ludovic Maublanc, 2006).

Gabriele Mari hat im Jahre 2009 mit „Mister X – Flucht durch Europa“ das Spiel des Jahres 1983, „Scotland Yard“ (damals anonym bei Ravensburger erschienen), von London auf das Festland versetzt. Immer noch jagen die Mitspielenden einen geheimnisvollen Verbrecher, der sich beinahe unsichtbar durch die Gegend bewegt und nur ab und an ein paar Spuren, wie etwa benützte Fahrscheine, hinterlässt. Jetzt kann man diesem mysteriösen Typen schon in Wiens öffentlichen Verkehrsmitteln begegnen (2011 etwa wurde die Jagd auf Mr. X am 21. Juni durchgeführt).

 

Das Konzept von „Scotland Yard“ hat Mari aber auch auf den Ripper-Fall im Londoner East End übertragen und nun als „Die Akte Whitechapel“ herausgebracht. Bis zu fünf Leute in ihren Rollen als Streifenpolizisten des „Herbstes des Schreckens“ (Autumn of Terror) von 1888 folgen der blutigen Spur des Serienmörders. Ihre Aufgabe ist es, sein Versteck zu finden, noch besser, ihn auf der Flucht festzunehmen und ihn so an der Begehung weiterer Morde zu hindern. Unabhängig von der Anzahl der Mitspielenden sind immer fünf Einheiten auf der Jagd nach dem Killer, sie haben vier Spielabschnitte – jeweils „eine Nacht“ genannt – Zeit, die Aufgabe zu erfüllen. Auf dem Spielbrett, das Whitechapel mit seinen verwinkelten Gässchen als vergilbten Stadtplan zeigt, wählt der Ripper geheim eines der 199 Zahlenfelder als sein Versteck. Dorthin muss er nach jedem Verbrechen in höchstens neunzehn Zügen zurückkehren. Zuerst hat er fünf Runden Zeit, ein Opfer auszusuchen. Erst wenn er eine der weißen Holzfiguren, welche die unglücklichen Frauen darstellen, erkoren und damit ihren Standort als Tatort und Ausgangspunkt der Jagd festgelegt hat, dürfen die Polizistenfiguren gezogen werden. Der Ripper bewegt sich auf den Zahlenfeldern, die Polizisten auf den schwarzen Kästchen zwischen diesen, alle jeweils schwarzen Linien entlang folgend, fort. Der Ripper notiert, ausgehend vom Tatortfeld die Nummern, über die er zieht. Die Polizisten dürfen nach jedem Zug (ein bis zwei Kästchen) den Ripper fragen, ob er schon einmal auf einem der benachbarten Zahlenfelder war, um so seine Fluchtrichtung und letztendlich sein Versteck zu ermitteln. Der Ripper muss wahrheitsgemäß antworten. Neben den normalen Bewegungen kann er pro Nacht auch noch bis zu drei Mal eine Kutsche (zwei Felder, und außerdem darf er – nur mit dieser Option – an Polizisten vorbeiziehen) oder bis zu zwei Schleichwege (durch einen Häuserblock hindurch, also nicht unbedingt entlang der schwarzen Linien des Stadtplans) benutzen. Regelvarianten ermöglichen dem Ripper auch, die Polizei durch falsche Hinweise zu verwirren. Er darf Felder blockieren und bis zu drei Karten ausspielen, um Polizistenfiguren auf dem Feld willkürlich zu versetzen; diese Karten sind nach den zeitgenössischen Bekennerschreiben benannt und geben dem Spiel seinen Namen in der Originalfassung: „Lettere da Whitechapel“ / „Letters from Whitechapel“.

Dennoch hat der Ripper kaum eine Chance. Im Test wurde er immer gefasst, meist noch vor der dritten Nacht. Das Verhältnis von fünf Polizisten gegenüber einem Ripper, die diesen bald und relativ leicht einkesseln können (er darf ja ohne Kutsche nicht über von Polizisten besetzte Felder ziehen und verliert auch, wenn er nicht am Ende der Nacht in seinem Versteck angelangt ist), ist zu erdrückend. Was im realen Leben moralisch gerechtfertigt ist, und im London des späten XIX. Jhdts. vielleicht mehreren Menschen ein grausiges Ende erspart hätte, wird im Spiel zu einem Ärgernis.

 

Während die Spielelemente geradezu exquisit gestaltet sind und zusätzlich ein eigener Chronikteil in den übersichtlichen und wohlgeordneten Spielregeln die wichtigsten Punkte der historischen Mordfälle zusammenfasst, mangelt es der „Akte Whitechapel“ an Möglichkeiten für die Ripper-Seite. Darüber kann auch das schöne Design nicht hinwegtäuschen. Zusätzlich schlägt das doch eher grausige Thema negativ zu Buche. Bei „Scotland Yard“ konnte man noch an einen fiktiven Juwelendieb oder auch Atomspion denken, in diesem Spiel wird man mit jedem Blick auf das Spielfeld an furchtbare aber reale Gräueltaten erinnert. Deswegen fällt auch die Altersempfehlung des Verlages mit „ab 16“ (Originalausgabe übrigens: ab 13) erstaunlich hoch aus für ein Spiel, dessen taktische Anforderungen ein zwölfjähriges Kind leicht meistern könnte.

 

Martina & Martin Lhotzky, Marcus Steinwender

 

Spieler         : 2-6

Alter            : 16+

Dauer           : 120+

Autor           : Gabriele Mari, Gianluca Santopietro

Grafik          : Gianluca Santopietro

Titel             : Die Akte Whitechapel

Preis            : ca. 40 Euro

Verlag          : Nexus / Heidelberger 2011

Genre          : Deduktionsspiel

Zielgruppe    : Mit Freunden

Version        : de

Regeln         : de en es fr it jp

Text im Spiel : nein

 

Kommentar: ausführliche Spielregel * viel historischer Hintergrund * realistische Grafik * meist unerwartet rasch zu Ende, schlecht ausbalanciert

Vergleichbar: Scotland Yard, Fury of Dracula

Andere Ausgaben: Bei Nexus, Devir, Iello, Hobby Japan

Meine Einschätzung: 3

Statement Martina, Martin und Marcus: Schön gestaltetes, ausführlich recherchiertes Spiel, das leider auch die Gewinner nicht sonderlich glücklich macht – ein großes Ungleichgewicht zugunsten der Ripperjäger.

 

Zufall                            0

Taktik                  3

Strategie__                  2

Kreativität           0

Wissen_               0

Gedächtnis          2

Kommunikation   0

Interaktion                   3

Geschicklichkeit  0

Action                  0