Unsere Rezension

 

Wundervolle Weinfarbenlehre sowie Wetterverschiebungen

 

Viticulture Essential Edition

 

Wollen wir wieder Worker-Placement?

 

Wien und der Wein, eine jahrhundertelange bekannt-bewährte Verbindung; zum Thema Brettspiel und Wein fällt zunächst einmal „Vino“ (Goldsieber 1999) ein, in den Jahren danach hat es vorerst mit „Die Weinhändler“ nur zwei Spiele (mit sogar gleichem Titel) gegeben (Piatnik 2000 und Amigo 2004). Nach einer längeren Pause sind im Spieleherbst 2010 dann gleich vier Wirtschaftsspiele zum Thema Weinbau erschienen: „Grand Cru“ (eggertspiele), „King´s Vineyard“ (Mayday Games), „Toscana“ (Aqua Games) und „Vinhos“ (Huch & friends – heuer mit geplanter Neuauflage in einer Deluxe Edition); das Jahr darauf hat dann auch noch „Vintage“ gesehen. „Viticulture“ liegt bereits seit 2013 als erfolgreiches Kickstarter-Projekt vor, nunmehr hat es eine (etwas veränderte bzw. verbesserte) Neuauflage beim Feuerland-Verlag erfahren (beinhaltend bereits Elemente aus der sogenannten „Tuscany“-Erweiterung).

 

Thema ist weiterhin der Weinbau in der Toskana: Und dem Spiel eilt der Ruf voraus, sich gerade in seiner thematischen Umsetzung besonders hervorzuheben. Nun ja; nicht nur werden hier (erst) im Sommer die Reben gepflanzt und die Trauben (nicht im Herbst, sondern) im Winter gelesen (oder ist das bereits ein Tribut an den Klimawandel)? Auch gestaltet sich das Keltern von Rosé-Wein eher „originell“, nämlich aus einer Mischung aus dem Most von roten und weißen Trauben. Aber Stadtkindern, die glauben, dass die Milch von lila Kühen stammt, kann man ja ohnehin alles erzählen. In diesem Sinne ist wohl auch der ungewollt komische, dafür gleich dreimal in der Spielanleitung zu findende Hinweis zu verstehen: „Die Rebenkarten verbleiben nach der Ernte auf dem Gebiet. Winzer belassen die Reben im Boden, wenn sie Trauben ernten. Du pflückst lediglich die Trauben von den Reben“. Und auch die Herstellung von Sekt mutet eher eigenwillig an. Letztlich lässt sich auch der Umstand, dass geerntete Trauben bei längerer Lagerung stetig wertvoller werden, nur anhand der spielerischen Notwendigkeit begründen.

 

Aber (jedenfalls vorerst ;) genug genörgelt; das Spielmaterial muss man sich nämlich wirklich nicht erst „schöntrinken“: Zum einen begeistern die detailliert gestalteten kleinen Holzspielsteine; u.a. Hähne für die Zugreihenfolge pro Runde, eine klassische Weintraube für den Startspieler, Weinflaschen als Anzeige für das Einkommen und diverse niedliche Bauwerke (sogar die beiden Weinkeller pro Mitspieler sind unterschiedlich gestaltet). Zum anderen gibt es 76 völlig unterschiedlich gezeichnete und benannte Besucherkarten (auch in ihrer Funktion ähnlich wie die Ausbildungen bei „Agricola“).

 

Eine Partie ist relativ flott aufgebaut, wobei jeder Mitspieler etwas unterschiedliche Startvoraussetzungen erhält (entzückend dargestellt über jeweils eine „Mama“- und eine „Papa“-Karte, die quasi das jeweilige Startkapital vererben). Stets mit dabei sind jedenfalls zwei kleine und ein großer Arbeiter (weitere können im Spielverlauf eingestellt werden). Die Arbeiter werden natürlich (wie auch sonst immer) auf die bekannt-bewährten Einsetzfelder auf dem Spielplan platziert, um dem Besitzer sofort einen (hoffentlich) sinnvollen Vorteil zu verschaffen. Da jedes Feld nur einmal pro Runde genutzt werden darf, dient der große Arbeiter dazu, sich nachträglich noch die Funktion eines Aktionsbereiches zu sichern. Eine gute und (sogar) neue Idee ist die Unterteilung der Einsetzfelder in einen Sommer- und Winter-Bereich (unverständlicher Weise aber leider nicht in einen Frühlings- und Herbst-Bereich):

 

Die Arbeiter dürfen nämlich nicht gleich auf dem ganzen Spielplan eingesetzt werden, zunächst kommt der „Sommer“ dran; erst wenn alle in dieser Phase gepasst haben, folgt der „Winter“. Man muss sich also neben der permanenten Frage, wo setze ich gleich einen Arbeiter hin, wo kann ich mir vielleicht noch Zeit lassen, auch noch überlegen, wie viele Arbeiter man für die Einsetzfelder des „Winters“ aufheben soll bzw. will. Weniger neu, dafür ebenfalls gut ist ein Bonus, den üblicherweise der erste Arbeiter pro Aktionsbereich lukriert; auch das macht die wiederholten Entscheidungen hinsichtlich des Einsetzortes und des Timings knifflig und spannend. Die Auswahl eines Wunsch-Bonus (soweit für den Einzelnen noch möglich) spielt auch zu Beginn jeder Runde eine große Rolle, wenn die Mitspieler ihre jeweiligen Hähne auf der Zugreihenfolgeleiste platzieren: Ein früheres Drankommen bedeutet hier nämlich die Zuteilung eines schwächeren Bonus als für die Mitspieler, die sich erst später von ihren Hähnen wecken lassen wollen.

 

Was „Viticulture“ über sonstige Worker-Placement-Spiele hervorzuheben vermag, ist die Möglichkeit der Verwendung von sogenannten „Besucherkarten“. Diese gewähren dem jeweils Ausspielenden nämlich einen einmaligen und jeweils einzigartigen Vorteil (wobei für das Nutzen zuvor oft auch eine Bedingung vorhanden sein oder etwas Bestimmtes abgegeben werden muss). Die Motivation zur optimalen Kombination aufgrund des chronologisch „richtigen“ Ausspielens dieser Karten bewirkt jedenfalls einen sehr hohen Spielreiz. Verstärkt wird dieser noch dadurch, als die Karten nicht einfach so gespielt werden dürfen, sondern erst nach dem Einsetzen eines Arbeiters auf dem entsprechenden Feld (wobei der Erste gleich zwei Karten nutzen darf). Damit verbunden ist zwar ein gewisser Glücksanteil beim Nachziehen dieser Karten, zumal deren Funktionen manchmal nicht ausgewogen bzw. unterschiedlich „stark“ erscheinen. Doch ist dies wohl eher dem Umstand zuzuschreiben, dass es beim (vermeintlich) starken oder schwachen Effekt der jeweiligen Wirkung vor allem auf die gerade gegebene allgemeine und persönliche Spielsituation ankommt. Die Kunst liegt immer wieder eben darin, eine Spielsituation zu schaffen, in welcher der Effekt der jeweiligen Karte besonders zum Tragen kommt. 

 

Aber auch die anderen beiden Kartentypen sorgen für Spannung (bzw. für Freude und/oder Frust) und verstärken den spielerischen Glücksanteil: Zum einen die Rebenkarten; nachdem diese zufällig gezogen und später auf dem eigenen Tableau „gepflanzt“ worden sind, lassen sich mit diesen rote und/oder weiße Trauben lesen bzw. ernten. Schön also, wenn ich eine weiße Rebensorte als Ergänzung zu meinen bereits gepflanzten roten Reben nachziehe; weniger schön, wenn ich stets nur rote Reben ziehe. Schön, wenn ich Rebensorte nachziehe, die gut zu meinen bereits errichteten Bauwerken passen (dazu stehen „Spalier“ und/oder „Bewässerung“ zur Verfügung); weniger schön, wenn ich wegen der neuen Rebenkarte vielleicht erst extra noch ein weiteres Bauwerk errichten muss. Aber auch hier ist der Reiz hoch, entweder schon im Vorhinein allgemein tauglichere Voraussetzungen zu schaffen, oder eben das Beste aus den neu gezogenen Karten zu machen.

 

Zum anderen haben diese Überlegungen auch für die Weinbestellungen Gültigkeit; dabei handelt es sich um Auftragskarten, mit denen man für Rot- und/oder Weiß- und/oder Rosé-Wein und/oder Sekt Siegpunkte und Einkommen erhält. Schön, wenn man etwa eine Karte zieht, die zwei Weine fordert, welche bereits in den eigenen Kellern lagern. Weniger schön, wenn ich eine Weinbestellung erhalte, für die etwa ein erst mühsam herzustellender Sekt erforderlich wäre, obgleich ich mich mit meiner Produktion eigentlich lieber mit billigen Massenweinen begnügen wollte (weil ich mir dabei das teure Ausbauen meines Kellers ersparen würde). Aber auch manche der Besucherkarten gewähren Siegpunkte, im Ergebnis oft sogar mehr als die Mitspieler erwarten würden (und jedenfalls zu deren Überraschung).

 

„Viticulture“ spielt sich zwar in jeder Besetzung gleichermaßen gut, bei mehr Mitspielern dauert eine Partie aber länger. Ab drei Mitspielern gibt es zwei Einsetzfelder pro Aktion, ab fünf Mitspielern sogar drei, was eine elegante und unkomplizierte Anpassung der Mechanik an die Spielerzahl darstellt. Und sogar eine Solo-Variante (mit einer nur ca. halbstündigen Dauer) ist enthalten: Dabei wird ein Spiel zu zweit simuliert, wobei zufällig gezogene „Automa-Karten“ festlegen, welche (null bis drei) Einsetzfelder der aktuellen Jahreszeit bereits vom „Mitspieler“ besetzt (und somit blockiert) sind; weiters werden für den Einzelspieler auch noch ein Kampagnen-Modus sowie fünf Schwierigkeitsstufen angeboten. Damit einher geht aber (wieder einmal) das bekannte Manko wie bei so vielen anderen Worker-Placement-Spielen: Im Wesentlichen spielen nämlich alle parallel nebeneinander her. Zwar gibt es natürlich Interaktion über das „Wegschnappen“ von Einsetzfeldern, doch ist das zumeist eher eine zufällige als eine gewollte Konsequenz der jeweiligen Spielweise. Immerhin haben noch manche der (selbst ausgespielten) Besucherkarten Einfluss auch auf die Mitspieler; wer jedoch Worker-Placement-Spiele mit viel Interaktion bevorzugt, sollte doch besser „Keyflower“ (WIN 448 vom Februar 2013) und/oder „Spyrium“ (WIN 462 vom Februar 2014) spielen.

 

Und was am grundsätzlich sehr tollen Spielmaterial doch noch zu kritisieren bleibt, sind zum einen die etwas übertrieben klein geratenen Texte auf den Besucherkarten. Zum anderen verursacht nicht nur die Farbwahl (von blau und lila) immer wieder das eine oder andere Missverständnis, auch die Holzfiguren „Cottage“ und „Keller“ (sowie die entsprechende grafische Gestaltung auf den „Papa“-Karten) bergen Verwechslungspotential. Zwar sind auch die Bauwerke detailliert gestaltet, doch würde man sich bei einem Spiel in diesem Preissegment auch bei diesen Spielsteinen größere Exemplare erwarten. Und da ohnehin bereits der Spielplan und die Spielertableaus zweisprachig ausgefallen sind, wäre es wohl auch angebracht gewesen, die 76 Besucherkarten in ihrer englischen Variante mit in die Schachtel hineinzupacken. Ein allerletztes Mal soll auch noch die wirklich unsinnige und thematisch störende Unterteilung der Einsetzfelder in einen Sommer- und einen Winter-Bereich (anstatt in einen Frühlings- und einen Herbstbereich) moniert werden.

 

Harald Schatzl

 

Spieler: 1-6

Alter: 12+

Dauer: 90+

Autoren: Jamey Stegmaier & Alan Stone + Morten Monrad Pedersen
Grafik: Christine Santana

Preis: ca. 60 Euro

Verlag: Feuerland Spiele 2016

Web: www.feuerland-spiele.de

Genre: Worker Placement

Zielgruppe: Experten

Spezial: 1 Spieler

Version: de

Regeln: de

Text im Spiel: ja

 

Kommentar:

schöne und stimmungsvolle grafische Gestaltung

hohe Qualität des Spielmaterials

variable Rundenanzahl und spielerzahlabhängige Spieldauer

sehr gut (auch) zu zweit sowie solo spielbar

in Begleitung von Vielspielern auch für Gelegenheitsspieler geeignet

 

Vergleichbar:

Agricola; Lewis & Clark

 

Andere Ausgaben:

Viticulture, Stonemaier Games

 

Meine Einschätzung: 6

 

Harald Schatzl:

Optisch überzeugt „Viticulture“ gleich nach dem Öffnen mit seinem strahlenden Spielmaterial, auch wenn sich nach Luftzufuhr eine etwas ungeschickte Farbwahl mit Verwechslungsrisiken (selbst im noch nüchternen Zustand) zeigt. Der erste Schluck wirkt aufgrund der erdig-klassischen Spielmechanismen zwar noch eher neutral, am Gaumen überzeugt dann aber die betont spielerische Note. Hervorzuheben ist der lang anhaltende Abgang bedingt durch eine Vielzahl von unterschiedlichen Karten und der Möglichkeit des Ausprobierens unterschiedlicher Spielweisen; dies bei einer ausgereiften, dennoch nicht zu übertriebenen Komplexität. Insgesamt jedenfalls eine äußerst befriedigende Geschmacksfülle mit einer nahezu perfekt harmonisierenden Balance aus Bewährtem und dem fein eingebundenen Thema, die im Detail mit runder Eleganz zu punkten vermag.

 

Zufall (rosa): 2

Taktik (türkis): 3

Strategie (blau): 2

Kreativität (dunkelblau): 0

Wissen (gelb): 0

Gedächtnis (orange): 0

Kommunikation (rot): 0

Interaktion (braun): 1

Geschicklichkeit (grün): 0

Action (dunkelgrün): 0