I’m the Boss

 

Sid Sacksons Vermächtnis

 

Auch für einen Spielrezensenten gibt es bisweilen überraschende Momente des Glücks, wie etwa den, einen echten Sid Sackson Klassiker bearbeiten zu dürfen. Posthum noch dazu, ist doch der Altmeister des Brettspiels bedauerlicherweise vor einigen Jahren von uns gegangen. I’m the Boss ist eine Neuauflage des Schmidt Spiels Kohle, Kies & Knete (Auswahlliste Spiel des Jahres 1994), zugegeben, doch soll dies den Sinn einer intensiven Auseinandersetzung mit diesem eher untypischen Sackson keinesfalls schmälern. Wer einzelne Werke aus dem Œvre des Meisters kennt, mit Kohle, Kies & Knete aber nicht vertraut ist, wird sich in jedem Fall mit Spannung und hoher Erwartungshaltung auf diesen Verhandlungspoker freuen dürfen.

Die Geschichte von I’m the Boss reicht sogar noch weiter in die Schaffensperiode Sid Sacksons zurück. Eine eher wenig ansehnliche Kartenspielausgabe für den amerikanischen Markt erschien bereits in den Achtzigerjahren unter dem Titel It’s a Deal. Für den deutschen Geschmack kaum brauchbar, wurde das Regelwerk gänzlich neu überarbeitet. Mit Knut-Michael Wolf konnte glücklicherweise ein akribischer Vollblutprofi für eine adäquate Regelübersetzung angeheuert werden. Eigentlich sollte ich eher den Begriff „Regelerweiterung“ verwenden, ist doch, wie der Übersetzer in einem Interview betont, sein eigener Beitrag zu einem lesbaren und fesselnden Einstieg in diesen atypischen Sackson ziemlich beträchtlich. Heraus gekommen ist, wie Knut-Michael Wolf ganz unverhohlen meint, „in meinen Augen aber das Beste, was er [Sackson] je erfunden hat!“ Nun, die Vorschusslorbeeren sind verteilt, jetzt geht es an die Kernfrage, die Qualität dieser Neuveröffentlichung von Face 2 Face Games.

Was ist das Ziel des Spiels? Um es gleich ganz offen zu sagen, es gilt Dollars zu scheffeln, Deals Gewinn bringend abzuwickeln, das Motto des Titels zu verkörpern („I’m the Boss“), vor allem aber am Ende mit dem größten Geldberg dazustehen. Typisch amerikanisch, werden Sie sagen. Nun, zumindest wird die Welt der Finanztransaktionen in interessanter Form widergespiegelt. Sie müssen Ihre Geschäfte mit Hilfe der Mitspielerinnen abwickeln, und das geht nicht, ohne entsprechendes Verhandlungsgeschick zu entwickeln. Kleinere und größere Gewinnbeteiligungen vorausgesetzt, werden Sie schon den einen oder anderen Deal selbst machen. Ob es am Ende reicht? Wait and see - there can only be one true tycoon!

Die Vorbereitungen bei I’m the Boss sind sehr schnell erledigt. Der Spielplan mit den sechzehn quadratischen Feldern wird in der Tischmitte ausgebreitet und die „Dollarfigur“ auf ein beliebiges Feld gesetzt. Jede Spielerin bekommt eine (bzw. bei drei Spielerinnen zwei) Investorkarten zugeteilt. Damit schlüpft auch bereits jede Teilnehmerin in eine entscheidende Rolle. Da auch Lust und Spielwitz um den Tisch versammelt sind, tragen die Investorkarten klingende Namen: Carolyn Cashman, Debra Dougherty (am. dough = Geld), George Goldman, Lance Liebgeld, Stephanie Sacks (am. sack = Beutelinhalt) und Will Wadsworth (am. wad = Banknotenbündel.) Vom restlichen, gut gemischten Kartenstapel bekommt jede Spielerin fünf Karten zugeteilt. Die fünfzehn durchnummerierten „Big Deal“ Karten, deren Gewinnanteil mit Fortdauer der Partie zunimmt (von 2 bis 6 Mio. $), werden in aufsteigender Folge in die Spielplanmitte gelegt. Irgendeine seriöse Spielerin übernimmt die Bank, ansonst beginnen alle mit leeren Taschen. Wer den alphabetisch niedrigsten Investor gezogen hat, macht den Anfang. Diese Einstiegsphase kostet kaum eine Minute Zeit. Allerdings sind Sie bei Ihrer ersten Partie noch nicht wirklich startklar. Ohne die einzelnen Kartentypen zu kennen, würden Sie schnell die wichtigsten Spielziele, die Deals, versäumen. Daher sollten Sie kurz innehalten und einen Blick auf die neben den Investoren zusätzlichen Kartentypen werfen. Es gibt (1) 24 Clankarten, die die gleichen Namen wie die Investoren zeigen, und diese in ihrer Funktion ersetzen können, (2) 21 Ferienkarten, mit denen Sie Investoren und Clanmitglieder jederzeit auf Urlaub schicken können, (3) 33 Abwerbungskarten, um fremde Investoren in Ihr Lager zu ziehen, (4) 10 Boss-Karten, die eine Übernahme einer Geschäftsverhandlung erlauben und zuletzt (5) 10 Abgelehnt!-Karten. Diese können, wenn gewünscht, unmittelbar gegen Ferien-, Boss- und Abwerbungskarten der Gegnerinnen eingesetzt werden. Keine Angst, es liest sich schwerer als es sich spielt. Nach ein, zwei Deals werden Sie sich fast blind ins Getümmel werfen. Einem schnellen Spielchen steht nun nichts mehr im Wege.

Der Spielablauf ist, theoretisch betrachtet, sehr einfach. Sie haben die Wahl zwischen einem sofortigen Deal (eine Geschäftstransaktion im Wert von 6 bis 30 Mio. $) und einem Würfelwurf, um auf einem anderen Feld einen besseren Deal zu landen oder wenigsten durch Nachziehen von drei Karten Ihr Handblatt zu verbessern. Damit erhöhen sich Ihre Manipulationsmöglichkeiten im weiteren Spielverlauf. Wer immer sich für einen Deal entscheidet, muss die auf dem gerade aktuellen Feld (markiert durch die Dollarfigur) geforderten Geldgeber mit Hilfe eigener Investor- oder Clankarten oder solche der Mitspielerinnen „an einen Tisch bringen“. Die Namen der Geldgeber sind ebenfalls angeführt, wobei zwischen Pflicht-Investoren und optional aus einer Gruppe wählbaren unterschieden wird. Jede Spielerin kann nach Gutdünken jederzeit, ohne Vorankündigung, eine oder mehrere ihrer Handkarten ausspielen und dabei Geldgeber unterstützen oder auch welche „in die Ferien“ schicken, sprich aus dem Spiel nehmen. Verhandlungsangebote, das sind Gewinnanteile für die einzelnen Geldgeber, die „dem Boss“ von fremden Spielerinnen zur Verfügung gestellt werden, müssen bei Abschluss des Deals auch ausgezahlt werden. Vorauszahlungen sind dagegen illegal. Die oben angeführten Clan-, Abwerbungs-, Boss- und Abgelehnt!-Karten sorgen für unübersehbare Wechsel auf Angebots- und Nachfrageseite. Scheitert Ihr Versuch, die geforderten Geldgeber zu vereinen, haben Sie Pech gehabt. Die nächste Spielerin wird trachten, es besser zu machen. Das Spiel endet auf jeden Fall nach dem fünfzehnten Deal, bei entsprechender Zufallsentscheidung aber auch bereits nach dem zehnten, elften usw. Wer dann am meisten Cash auf den Tisch knallt, darf sich als Boss der Bosse fühlen. Bis zur Revanche, wohlgemerkt! Denn diese wird oft direkt angesagt.

Was ist kritisch anzumerken? Wenn Sie in der Neuausgabe eine wesentliche Verbesserung zum bereits erprobten Kohle, Kies und Knete erhoffen, werden Sie vergeblich suchen. Wer also die Schmidt-Ausgabe sein Eigen nennt, kann auf I’m the Boss wahrlich verzichten. Auch der deutsche Übersetzer ist der gleiche, und die Spielregeln sind wortidentisch. Gut, es werden einige kleine Hausvarianten angeführt, von denen mir persönlich vielleicht die am besten gefällt, der zufolge auch beim Ausspielen einer Bosskarte die Spielreihenfolge unverändert bleibt. Die drei Ausnahmeregelungen für zwei Spielerinnen sind regeltechnisch akzeptabel, wenn auch gerade I’m the Boss vom Feilschen um jeden Dollar lebt, vom ständigen, oft überraschenden Einwerfen von Kärtchen, die das Spielglück wie einen Ping-Pong Ball mal hierhin, mal dorthin treiben lassen. Man leidet einfach mehr, wenn mehr Spielfreunde um den Tisch sitzen und lustvoll mit ungeheuchelter Schadenfreude die entgangenen Megadeals der anderen kommentieren, wenn lautstark diskutiert und notfalls mit einem „schlagenden“ Argument in Form einer Überraschungskarte nachgeholfen wird.  Damit sind wir bereits beim entscheidenden Punkt. I’m the Boss ist kein Spiel für zurückhaltende, grüblerische Menschen. Sie haben auch kaum Zeit, lange über den Einsatz der einen oder anderen Karte nachzudenken, denn alle, wirklich alle, handeln ständig gleichzeitig. Der Boss mag einen Deal eröffnen und ihn formal auch für beendet erklären, das stimmt schon. Aber das Leben dazwischen gestalten alle Investorinnen. Sie erinnern sich, sie müssen gleich bei der Kartenzuteilung Ihre Rollen übernehmen. Je temperamentvoller Sie bei den kleinen und großen Geschäften manipulieren, je durchsetzungsfreudiger Sie sind, desto eher werden Sie Ihre Mitspielerinnen zu unbedachten Aktionen verleiten. Absolute Interaktivität ist das Markenzeichen dieses meisterhaft konzipierten Sid Sackson Spiels. Noch eine kleine positive Anmerkung zur Neuausgabe: die Geldscheine, die bis zum finalen Showdown geheim gehalten werden, sind dankenswerter Weise auf Pappkärtchen gedruckt, daher auch von der Rückseite nicht zu erkennen. Well done! 

Es mag in einer Rezension unüblich sein, allzu viele Worte über den Spielautor zu verlieren. Aber in diesem Fall erlaube ich mir eine Ausnahme. Immerhin wurde Sid Sackson von keinem Geringeren als Wolfgang Kramer, dem fünfmaligen Gewinner der höchsten deutschen Spielauszeichnung, als „the greatest game designer in the world“ bezeichnet. Eigentlich erstaunlich, war Sid Sacksons bürgerlicher Beruf doch der eines Bauingenieurs. Noch im Zweiten Weltkrieg arbeitete der 1920 geborene Sackson an der Konstruktion von Flugzeugträgern. Bereits kurz nach dem Krieg entschied er sich dann, den damals in Amerika fast unmöglichen Weg eines Spielautors zu gehen. Mit unglaublichem Erfolg. Mehr als 150 seiner über 700 Spiele wurden bis zu seinem Tod im Jahr 2002 kommerziell vertrieben, viele seiner Ideen konnte er in seinen Büchern, allen voran „A Gamut of Games“ (dt. „Spiele anders als andere“) und „Beyond Solitaire“ einem faszinierten Publikum vorstellen. Sein größter Triumph war jedoch ohne Zweifel Acquire, das seit seiner Ersterscheinung bei den legendären 3M Bookshelf Games unzählige Neuauflagen und Neuausgaben gesehen hat. Eine Aufnahme in die Games Magazine’s „Board Game Hall of Fame“ bildet die Krone der Auszeichnungen. Mit Focus konnte der unvergessene Sid Sackson 1981 auch „seinen“ Sieg bei der Wertung zum „Spiel des Jahres“ erringen, was bislang keinem weiteren reinen Logikspiel vergönnt war. Und ganz zuletzt möchte ich noch meinen persönlichen Sid Sackson Favoriten anpreisen: den Evergreen Can’t Stop. Für mich handelt es sich hier um eine der besten Ideen aller Zeiten, ein Würfelspiel mit unglaublicher Turbulenz und Spielfreude pur.

Nach diesem Exkurs nun zurück zu I’m the Boss. Es ist Zeit für eine abschließende Betrachtung. Mein persönliches Fazit: Sie werden sich dem hektischen Treiben in diesem ewigen Streben nach den besten Deals nicht entziehen können, so viel sei verraten. Egal wie sie Ihren Plan auch anlegen, um erfolgreich zu sein, brauchen Sie die Investoren und Clanmitglieder der Mitspielerinnen. Und diese machen nichts umsonst! So sieht sie aus, die Geschäftswelt, wenn es um den schnöden Mammon geht. Geben Sie zuviel von einem lukrativen Deal ab, bringen Sie sich womöglich am Ende um den ersehnten Gewinn, bieten Sie dagegen zu wenig, werden die anderen Sie einfach verhungern lassen, indem sie Ihnen wertvolle Unterstützungskarten vorenthalten. Ein Seiltanz bleibt dieses Geschäftemachen allemal. Und da auch die Deals immer opulenter werden, je weiter der Abend fortschreitet, das Ende aber meist sehr unverhofft kommt – hier hat Sid Sackson ganz schön aus der Trickkiste gezaubert – bringt auch das von anderen Spielen bekannte „Aussitzen“ wenig. Sie müssen im richtigen Augenblick dabei sein, am besten in der Führungsrolle. Davon träumen jedoch alle um den Tisch versammelten Geschäftemacherinnen. Es geht eben bei den entscheidenden Deals nichts über ein in letzter Sekunde hingeworfenes, lautstarkes, amerikanisch akzentuiertes „I’m the Boss“. 

 

I’M THE BOSS 

Spieler         : 3-6 (Variante für 2)

Alter            : ab 12 Jahren

Dauer          : 60 Minuten

Verlag          : Face 2 Face Games 2003

                     www.face2facegames.com

Autor           : Sid Sackson

Graphik        : William O’Conner

Preis            : ca. € 30

 

WIN WERTUNG

Genre                    : Verhandlungsspiel

Zielgruppe             : Familien & Experten

Mechanismus         : Optimale Deals zusammenstellen

Strategie                : *

Taktik                    : ***

Glück                    : ****

Interaktion             : *******

Kommunikation      : *******

Atmosphäre           : *****

Kommentar:

Neuauflage von Kohle, Kies und Knete (1994)

Kurzweiliges Spielvergnügen

Sehr hohe Interaktivität

Optimale Abstimmung der Handkarten

Prickelndes Spielgefühl

Hugo Kastner: Wer das pulsierende, lebendige Streben nach dem Megadeal einmal miterlebt hat, wird I’m the Boss jeder nicht allzu grüblerisch geprägten Spielrunde empfehlen. Die trockene Genrebezeichnung „Verhandlungsspiel“ lässt die innewohnende Dynamik dieses Sid Sackson Meisterwerks nicht im Geringsten erahnen. Stellen Sie sich daher auf einen turbulenten Spielabend ein, besonders dann, wenn laute, pfiffige Verhandlungen Ihrem Naturell entsprechen. I’m the Boss ist eine Bank für Spielfreunde mit argumentativer Überzeugungskraft.  

 

Wer gerne Verhandlungsspiele mag und seine Gegner in Grund und Boden redet, wird an I’m the Boss Freude haben.

    

Hugo Kastner

hugo.kastner@chello.at