OLD TOWN  So war der wilde Westen ...

 

Archäologen rekonstruieren eine verfallene Geisterstadt

 

Überraschungen in der Welt der Spiele scheinen eher seltener zu werden. Umso erfreulicher, dass es dem fast unbekannten Stephan Riedel mit seinem Logik- und Kombinationsspiel Old Town nun mit einiger Verspätung gelungen ist, auf dem deutschen Spielemarkt aufzuzeigen. Nach dem 2. Platz beim italienischen Spielewettbewerb „Premio Archimede“ im Jahr 2002 wird nun dieser Leckerbissen auch dem deutschen Publikum zugänglich gemacht. Wenn auch nur in bescheidener Auflage im kleinen Clickerverlag. Nun, dies soll der Freude, die Old Town den Spielerinnen vermittelt, keinen Abbruch tun. Wir werden von diesem jungen Autor in Zukunft sicherlich noch einiges hören.

 

Um was geht es bei diesem Newcomer? Einfach gesagt um die Rekonstruktion einer verfallenen Geisterstadt, die irgendwann am Ende des 18. Jahrhunderts ihren Lebensodem ausgehaucht hat. Gemeinsam, wenn auch als Gegenspielerinnen, versuchen zwei bis vier Hobbyarchäologinnen, die Lage von sechzehn damals blühenden Gebäuden wieder exakt zu bestimmen. Dazu dient ein alter Lageplan, der durch ein typisch amerikanisches Orthogonalnetz von Straßen, eine Eisenbahnlinie und diverse Landschaftselemente, wie etwa Büffelweide oder Friedhof klar gegliedert ist. Sie wussten schon immer, wie sie eine Siedlung anzulegen hatten, die Cowboys und Westerners von anno dazumal. Jedes Gebäude kann theoretisch auf mehreren Plätzen gestanden haben. Für jeden Hinweis, der die Lage genauer spezifiziert oder gar endgültig festlegt, gibt es Punkte, die letztlich darüber entscheiden, wer die beste archäologische Leistung geboten hat. Diese Aufgabe klingt auf den ersten Blick einfach. Aber Sie werden staunen, wie vielfältig die Beurteilung der Lage in der Spielrealität wird. Soll zuerst die Kirche errichtet werden, oder eher das Haus des Richters? Wann ist der günstigste Zeitpunkt zum Einsatz der eigenen Gebäude? Welches Gebäude bringt die meisten Punkte? Frage um Frage baut sich vor den archäologischen Spürnasen auf. 

 

Umfangreiche Spielvorbereitungen sind bei Old Town kaum nötig. Jede Spielerin erhält einige Informationskarten, abhängig von der Personenzahl, und dazu zwei eigene Gebäude. Die übrigen Gebäude (insgesamt gibt es deren achtzehn) werden neben dem Spielplan bereit gelegt, jeweils mit fünf passenden Markern bedeckt, die zur Festlegung der möglichen Bauplätze dienen. Der eigentliche Spielablauf wird durch drei unterschiedliche Arten von Informationskarten gesteuert. Der einfachste Kartentyp gibt vier Standorte für Gebäude an. Sobald eine dieser Karten gespielt wird (z.B. „Die Schule grenzt an die Bisonweide“), kommen die entsprechenden Marker auf die angezeigten Bauplätze. Dort, und nur dort, könnte das entsprechende Gebäude in der großen Zeit des Westens gestanden haben. Nicht verwendete Marker bringen der Spielerin sofort einen Siegpunkt. Da für jedes Gebäude exakt fünf Marker zur Verfügung stehen, kann im ersten Spielzug maximal ein Punkt eingefahren werden. Komplizierter zu erfassen ist der zweite Kartentyp. Hier werden zwei Gebäude zueinander in Beziehung gesetzt. Textlich stellt sich dies so dar: „Das Hotel lag in der Main St. gegenüber meinem Gebäude.“ Die Bauplätze für das Hotel sind klar definiert, nämlich an der Main St., mit „mein Gebäude“ ist dagegen eines der beiden vor der Spielerin liegenden gemeint. Und dieses darf frei gewählt werden. Besitzt nun die Spielerin etwa Saloon und Sheriff, so kann sie nach eigenem Gutdünken entscheiden, welches der beiden Gebäude mehr Punkte einbringt. Auch die dritte Informationskartenart verwendet den etwas schwammigen Begriff „mein Gebäude“. Hier werden sogar acht potenzielle Bauplätze angegeben (z.B. „Mein Gebäude lag am nördlichen oder südlichen Stadtrand“.) Diese Karten kommen jedoch erst etwas später ins Spiel, zu einem Zeitpunkt, wo die Zahl der freien Bauplätze bereits stark ausgedünnt ist. Das war es dann auch schon, theoretisch zumindest. Um den Spielablauf flüssig zu machen, und zudem jede erdenkliche Old Town Konstellation abzudecken, gibt es eine Reihe von Spezialregeln. Wichtig ist es zu wissen, dass Karten, die die Situation auf dem Spielplan nicht verändern, oder solche, die im Widerspruch zu den bereits errichteten Gebäuden oder ausliegenden Markern stehen, bloß tote Information enthalten. Sie dürfen daher von der Spielerin, die am Zug ist, abgespielt und durch eine neue Karte ersetzt werden. Zudem darf ein beliebiger Marker vom Spielplan entfernt werden. Das klingt einfach und nichts sagend, kann aber durchaus eine Kettenreaktion auslösen und so Spiel entscheidend werden. Weitere Sonderregeln besagen, dass auf keinem Bauplatz mehr als drei Marker liegen dürfen, niemals eine Infokarte gespielt werden darf, die mehr als fünf mögliche Standorte zulässt, eine Spielerin durch einen Stoppruf eine Unachtsamkeit der anderen aufdecken darf, usw. Auch die eigene Gebäudezahl vor den Spielerinnen ist streng limitiert. Die Details muss sich jeder Old Town Connaisseur in persönlicher Kleinarbeit aneignen, darum kommt man einfach nicht herum. Das Spiel endet mit dem prachtvollen Blick auf die rekonstruierte Westernstadt. Wer am meisten zum Wiederaufbau beigetragen hat, darf sich als stolzer Meister der Gebäudearchäologie fühlen.

 

Interessant auch der Weg zum vorliegenden Spiel Old Town. Wie Stephan Riedel auf seiner Homepage schreibt, kam ihm die erste Inspiration bereits 1996 auf einem Urlaub in Neuseeland, wo er Fundstellen mit „Überresten“ eines alten Friedhofs besuchen konnte. Nach dem Göttinger Spieleautorentreffen 1999 wurde mit der Herstellung einer Kleinserie von 30 (!) Stück begonnen. Kontakte mit Amerika ermutigten ihn schließlich, an einer englischsprachigen Version zu basteln. Wohltuend, bei diesem Genre, würde ich meinen. Selbst in der jetzigen Ausgabe sind alle Informationskarten zweisprachig gehalten. Weniger erfreulich dabei die kleinen Fehler, die sich da und dort eingeschlichen haben, so z.B. bei der Karte „Der Schmied lag an der Ostseite der Dalton Rd.“ In der englischen Übersetzung heißt es fälschlicherweise „The smith was at the south side of Dalton Rd.” Never mind, es gibt ja noch die deutliche, leicht interpretierbare Graphik. Auch die Prämie von drei Punkten für die Spielerin, deren eigenes Gebäude errichtet wird, lässt sich nur aus den Beispielseiten ablesen. Aber kann man bei diesem Eigeneinsatz wirklich alles perfekt verlangen? Trotz des überraschenden Erfolges beim italienischen Wettbewerb „Premio Archimede“ war bei etablierten Verlagshäusern kein Interesse zu erwecken. Daher entschloss sich der Autor zuletzt, das Risiko der Eigenherausgabe einzugehen, mit allen Konsequenzen. Klar, dass dabei kein Hochglanzprodukt herauskommt, klar auch, dass die Graphik den Hauch des Antiquierten ausstrahlt. Aber all dies ist nur zu leicht verzeihlich, ja es scheint bei dem gewählten Thema sogar ein gewollter Aspekt.

 

Ein Erfolg sei Stephan Riedel bei diesem Eigenwerk daher mehr als vergönnt. Als seriöser Rezensent möchte ich meine Wortwahl, die einer Kaufempfehlung gleich kommt, in den folgenden Zeilen etwas präzisieren. Old Town erschließt sich nicht gleich beim ersten Spiel, dazu sind die Sonderregeln in unseren Gehirnen zu schwer vernetzbar. Aber sobald Sie alle Finessen verstanden haben, gehen Sie mit freudvoller Erwartungshaltung an die Arbeit. Arbeit? Ja, durchaus, die Wiederherstellung dieser alten Stadt erfordert einiges an Kombinationskraft und Ausdauer. Dennoch würde ich Old Town nicht als „Grübler“ gefährdet bezeichnen. Ungemein wohltuend, dieser Umstand, zumindest für ein Kombinations- und Deduktionsspiel. Spannend und herausfordernd zugleich sind die oft überraschenden Kettenreaktionen, die durch die Wegnahme eines Markers auf dem Spielplan entstehen. Bis zu zwanzig Punkte auf einmal sind in unseren Spielrunden schon vorgekommen. Auch die auf Riedels Homepage vorgeschlagenen Profiregeln für zwei und vier Spielerinnen garantieren einiges an Dynamik und strategischer Überlegung. So dürfen die Spielerinnen, wenn sie am Zug sind, null bis zwei Karten spielen, statt der in der Regel vorgegebenen einen. Bei vier Spielerinnen wird nach dem Setzen des sechsten Gebäudes entschieden, wer mit wem zusammen spielt (1. und 4, 2. und 3.) Auch das ständige Abwägen, welche Infokarte im Folgezug die besten Aussichten eröffnet, ist ungemein reizvoll. Eine kleine Einschränkung muss für die Endphase des Spiels gemacht werden. Hier sind bisweilen Zwangszüge unvermeidlich, sodass der Glücksfaktor die Waagschale um eine Nuance zu stark nach unten drückt. Dafür wieder großes Lob für die Solitärvariante. Acht Szenarien für Einzelspielerinnen in drei Schwierigkeitsstufen werden im Begleitheft angeboten, mit zum Grundspiel leicht veränderter Regel. Ein harte Nuss, fürwahr, besonders die hohen Schwierigkeitsstufen. Alles in allem funktioniert dieses Spiel wunderbar, besonders durch den wirklich neuen, faszinierenden Wertungsmechanismus. Letzte Warnung: Denken und kombinieren sollte jedoch allen Spielerinnen großen Spaß machen, das ist bei Old Town wahrlich unumgänglich.  

 

Mein persönliches Fazit: Old Town kommt in schlichter, wenn auch stilvoller Aufmachung daher. Die an die Fünfzigerjahre erinnernde, braune Kartonschachtel lässt kaum vermuten, mit welch spannenden Spiel- und Kombinationselementen sich die ein bis vier Spielerinnen nach wenigen Minuten konfrontiert sehen. Bekannt ist diese Art des Denkens aus den an jedem Kiosk erhältlichen „Logiktrainern“. Hier geht es nach dem bewährten Motto: „Der Richter wohnt an einer Ecke am Stadtrand“ oder „Die Poststation lag Ecke Main St. und Dalton Rd.“, usw. Wem diese Art der Gedankenakrobatik nicht zu fordernd ist, dem kann es schon mal passieren, bei Old Town in fast süchtiger Manier eine zweite und dritte Rekonstruktionsrunde zu erleben. Der Wermutstropfen: Old Town bietet eine erbärmliche Regel. Beim ersten Lesen ist es sogar für einen erfahrenen Kritiker nicht einfach, die folgende Partie korrekt durchzuspielen. Weder in der Mehr- noch in der Einpersonenvariante, die ja bei diesem Spiel einem leicht differenzierten Regelwerk folgt. Stephan Riedel hat dies zweifellos erkannt und auf seiner Homepage (siehe unten) eine „Neue Regel“ präsentiert. Schließlich will auch Old Town im Sinne des Autors gespielt werden. Well, it’s still not an easy go, um in der Westernsprache zu bleiben. Aber die Belohnung kommt, sobald man es  verspürt, dieses völlig neue Spielgefühl. Die Experten sitzen dann mit einem kaum unterdrückbaren, erwartungsvollen Kribbeln um die Grundmauern dieser Geisterstadt. Und mit einem ebensolchen verlassen Gewinner und Verlierer die Stätte ihres Wirkens. Was zählt ist die fertige Westernstadt, mit ihren illustren Gebäuden, dem Saloon, der Kirche, der Bank, dem Drugstore, der Postkutschenstation oder dem Barbier. Und frohgelaunt wird gemeinsam auf die archäologische Meisterleistung angestoßen. Cheers!

 

OLD TOWN 

Spieler:                 1-4

Alter:                    ab 10 Jahren

Dauer:                   45 Minuten

Verlag:                  Clicker Spiele

                            www.clicker-spiele.de

Autor:                   Stephan Riedel

Graphik:                Stephan Riedel

Preis:                    ca. € 20

 

WIN WERTUNG

Genre:                   Deduktionsspiel

Zielgruppe:            Experten und Familien, eventuell Solitärspielerinnen

Mechanismus:                  Rekonstruktion einer alten Goldgräberstadt

Strategie:               ***

Taktik:                            *****

Glück:                   ***

Interaktion:            ******

Kommunikation:     ***

Atmosphäre:          *****

Kommentar:

Erstvorstellung Göttinger Spielautorentage 1999

Premio Archimede 2002 (2. Platz) 

Deduktives Spielvergnügen

Hohe Interaktivität

Ungewöhnlicher Mechanismus

Neues Spielgefühl

Thematisch gelungene Umsetzung

 

Hugo Kastner: Old Town ist für mich eine der großen Überraschungen der Essener Herbstmesse. Wieder einmal ist es einem Kleinverlag gelungen, ein völlig neues Spielgefühl zu vermitteln. Diesmal beim bedächtig-akribischen Schritt für Schritt Rekonstruieren einer alten Goldgräberstadt. Unbestritten werden die Freunde der Logik- und Kombinationsspiele hier einen leichten Spielvorteil haben. Durch die vielfältigen Vernetzungen und das Nachziehen der Grundrisspläne kommt aber auch der Glücksfaktor zum Tragen. Überraschenderweise macht Old Town auch demjenigen Spaß, der letztlich auf der Verliererstraße landet. Wenn Ihnen Logikrätsel zusagen, werden Sie bei Old Town mehr voll auf Ihre Rechnung kommen. 

    

Hugo Kastner

hugo.kastner@chello.at